Ein Abend mit „Prima Facie“ und warum wir Räume für Opfer emotionaler Gewalt brauchen
Der Abend, der mich sprachlos machte
Gestern Abend: Malersaal des Celler Schlosses.
Die Bühne ist schlicht. Kein prunkvolles Bühnenbild, kein großes Ensemble – nur eine Schauspielerin, ein Tisch, ein paar Requisiten. Und doch hat dieser Abend mehr in mir ausgelöst als manches aufwendige Theaterstück.
Ich hatte bereits gelesen, dass „Prima Facie“ von Suzie Miller ein preisgekröntes Stück ist, in dem es um sexualisierte Gewalt und das Rechtssystem geht. Aber was ich dann erlebte, war mehr: Es war, als würde jemand das Licht in einem dunklen Raum anknipsen, den man lange nicht betreten wollte.
Ich saß da, dicht an der Bühne. Keine große Distanz zwischen Schauspielerin und Publikum. Jeder Blick, jede Geste, jedes Atemholen kam bei mir an. Und je länger das Stück lief, desto stiller wurde es im Saal. Diese Stille war keine Leere – sie war gespannte Aufmerksamkeit.
Worum es in „Prima Facie“ geht – und warum es trifft
„Prima Facie“ bedeutet auf Latein „auf den ersten Blick“.
Auf den ersten Blick wirkt alles klar: Beweise, Zeugenaussagen, das System der Gerechtigkeit. Doch wenn man selbst betroffen ist, zerbricht diese Klarheit.
Im Stück erleben wir Tessa (großartig gespielt von Pia Noll) – eine brillante Strafverteidigerin. Sie kennt das System, sie ist darin zuhause. Sie verteidigt Männer, denen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, mit juristischem Instinkt und Scharfsinn. Bis sie selbst Opfer wird – und plötzlich auf der anderen Seite des Systems steht.
Das Stück zeigt, was dann passiert: Wie ein Rechtssystem, das angeblich neutral ist, in Wahrheit Opfer oft entmutigt, zermürbt, retraumatisiert. Wie Fragen, Kreuzverhöre, Zweifel nicht nur nach Fakten suchen, sondern Macht ausüben. Wie Täter schweigen dürfen, während Opfer Details schildern müssen, intime Erinnerungen offenlegen, ihr Erleben immer wieder aufs Neue rechtfertigen.
Das Stück tut das nicht platt oder voyeuristisch. Es zeigt die Mechanismen – und lässt uns fühlen, was sie bedeuten.
Warum mich diese Inszenierung besonders bewegt hat
Das Schlosstheater Celle hat „Prima Facie“ an zwei Orten gespielt: im Oberlandesgericht – einem echten Gerichtssaal – und im Malersaal des Schlosses. Ich habe es im Malersaal gesehen.
Vielleicht hätte das Gericht für den Einen oder Anderen noch mehr Authentizität gehabt. Aber gerade im Malersaal passierte etwas Eigenes: eine fast intime Nähe. Die Schauspielerin stand nicht auf einer fernen Bühne, sondern fast mitten im Raum. Ihre Stimme, ihr Zittern, ihre Stärke – alles war unmittelbar.
Ich merkte, wie in mir etwas passiert: Ich wollte gleichzeitig zuhören und wegschauen. Ich wollte aufstehen, aber auch bleiben. Ich fühlte Ohnmacht, Wut, Mitgefühl – und eine Art stille Solidarität mit allen, die Ähnliches erleben mussten.
Als das Stück zu Ende war, war ich wirklich sprachlos. Nicht nur gerührt – sprachlos. Dieses Gefühl kennt vielleicht jede:r, der schon einmal etwas gesehen oder erlebt hat, das einen inneren Schalter umlegt.
Vom Gerichtssaal zum inneren Raum – welche Muster wir auch in emotionaler Gewalt finden
Während ich dort saß, kam mir ein Gedanke:
Das, was hier auf der Bühne sichtbar wurde, erleben viele Menschen in anderer Form – leiser, unsichtbarer, aber nicht weniger verletzend.
„Prima Facie“ handelt von sexualisierter Gewalt. Diese Erfahrung ist einzigartig und darf nicht verharmlost oder gleichgesetzt werden. Und doch gibt es Muster, die wir aus dem Stück erkennen können – Muster, die auch bei emotionaler Gewalt wirken:
das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen,
das Ringen um Glaubwürdigkeit,
die Retraumatisierung durch wiederholtes Erzählen,
die Macht von Sprache und Deutung.
Diese Mechanismen ähneln sich – auch wenn die Erfahrungen selbst sehr unterschiedlich sind.
Meine Arbeit richtet sich an Menschen, die emotionale Gewalt erlebt haben: Manipulation, Gaslighting, Abwertung, permanente Grenzverletzungen. Das ist kein Thema für Gerichtssäle. Es gibt selten Akten, Beweise, Zeugen. Es geschieht leise, im Privaten, in Beziehungen, in Familien, am Arbeitsplatz.
Und doch ist es schmerzhaft, wenn einem nicht geglaubt wird.
Und doch kann das Erzählen retraumatisieren, wenn es ohne Empathie geschieht.
Hier liegt für mich die Brücke: Prima Facie hat mich noch einmal daran erinnert, wie wichtig es ist, Strukturen und Räume zu schaffen, in denen Menschen – egal, welche Form von Gewalt sie erlebt haben – nicht erneut verletzt werden, wenn sie ihre Geschichte teilen.
Warum wir sichere Räume brauchen – und was das Stück uns lehren kann
„Prima Facie“ hat mir gezeigt:
Es reicht nicht, dass es Gesetze gibt. Es reicht auch nicht, dass wir Namen für Gewalt haben. Wir brauchen Räume, in denen Verletzungen ausgesprochen werden können, ohne dass sie infrage gestellt werden. Räume, in denen wir nicht „beweisen“ müssen, dass wir verletzt wurden, sondern in denen unser Erleben ernst genommen wird.
Genau das sehe ich als eine der Hauptaufgaben meiner Arbeit:
Sichere Beziehungsräume, in denen man erzählen darf, ohne Kreuzverhör.
Begleitung, um das eigene Erleben zu ordnen, sich selbst wiederzufinden und Grenzen zu spüren.
Impulse, die helfen, den Selbstwert zu stärken und zu verstehen: „Es war nicht meine Schuld.“
Ich bin mir sicher, Kunst wie „Prima Facie“ kann ein Schlüssel sein. Sie kann Bewusstsein schaffen – auch bei Menschen, die vielleicht nie in eine solche Situation kommen. Sie kann Mitgefühl trainieren. Sie kann zeigen, wie subtil Gewalt sein kann – und wie wichtig es ist, Strukturen zu verändern.
Mein Fazit nach diesem Abend
Ich verlasse den Malersaal mit einer Mischung aus Betroffenheit und Klarheit. Betroffenheit, weil das System so verletzend sein kann. Klarheit, weil ich noch deutlicher sehe, warum meine Arbeit wichtig ist: weil emotionale Gewalt selten Schlagzeilen macht, aber genauso seelisch zerstören kann.
Vielleicht brauchen wir für emotionale Gewalt das, was „Prima Facie“ für sexualisierte Gewalt ist: Geschichten, Räume, Theaterabende, Texte – die das Unsichtbare sichtbar machen, ohne zu verletzen.
Ich möchte mit diesem Blogartikel dazu beitragen.
Wenn du beim Lesen merkst, dass dich dieses Thema betrifft: Du bist nicht allein. Dein Erleben ist echt, auch wenn es niemand vor Gericht verhandelt. Es verdient Gehör, Respekt und Mitgefühl.
Wenn du dir Begleitung wünschst
In meinem Goldseele Check-In (kostenloses Erstgespräch) kannst du in einem geschützten Rahmen herausfinden, ob und wie ich dich begleiten kann. Du musst diesen Weg nicht allein gehen.

